Stell dir vor alles was du je erleben wirst, hinge als Blätter am Baum deines Lebens. Solange die Erlebnisse dort hängen, hast du sie noch vor dir. Sind sie vorüber, fallen sie wie Blätter vom Baum. Wie Laub im Herbst verändern sie ihre Farben und ihre Formen. Irgendwann beginnen sie in Stücke zu zerfallen. Und so geschieht es auch mit deiner Erinnerung.
Kennst du das? Du hast zusammen mit einer Freundin oder einem Freund etwas erlebt. Beim Schwelgen in Erinnerungen einige Monate oder gar Jahre später stellst du allerdings fest, dass ihr euch nicht einigen könnt, wie genau sich das Ganze zugetragen hat. Oder hast du wie ich eine Tante Rosa und einen Onkel Franz? Jedes Mal, wenn meine Tante etwas erzählt, korrigiert mein Onkel sie schon nach dem zweiten Satz. Schliesslich diskutieren die beiden darüber, ob sie das neue Sofa nun 1968 oder 1971 gekauft haben. Ob es am Tag der Lieferung geregnet hat oder nicht und ob Onkel Franz tatsächlich das Sofa ganz alleine in den 3. Stock tragen musste. Die eigentliche Erinnerung, die Tante Rosa mir erzählen wollte, wird dabei zur Randerscheinung. Dafür werde ich zum wiederholten Male Zeugin eines Ehestreits über lang vergangene Begebenheiten.
Neulich fuhr ich in die Gegend, in der ich aufgewachsen bin um zu wandern. Als ich zum Parkplatz zurückkam, zog eine riesige Linde meine Aufmerksamkeit auf sich. Es wurde mir bewusst, dass dieser Baum da schon stand, als ich ein kleines Mädchen war. Plötzlich waren sie da: Ein ganzer Strauss voller Erinnerungen. Und während ich ihnen nachhing, fragte ich mich plötzlich, ob sich meine Geschwister wohl an die gleichen Erlebnisse erinnerten? Und würden unsere Erinnerungen übereinstimmen, wenn wir sie austauschen würden? Während meiner Überlegungen betrachtet ich den grossen Baum mit seinen vielen Blättern und plötzlich war mir klar, warum Erinnerungen immer nur einen Teil der Wahrheit wiedergeben.
Unser Leben ist wie ein Baum. Die Blätter symbolisieren all die Momente, Geschichten und Ereignisse, die wir erleben. Haben wir eine Situation durchlebt, fällt das Blatt vom Baum. Augenblicklich beginnt es sich ganz langsam zu verändern. Die Farbe und auch die Form sind bald nicht mehr die gleichen wie damals, als das Blatt noch am Baum hing. Die schönsten Blätter sammeln wir auf. Weil sie uns so gefallen wollen wir sie behalten und aufbewahren. Der Veränderungsprozess geht aber unaufhaltsam weiter. Die Blätter sind irgendwann so trocken, dass sie in Stücker zerfallen. Und in immer kleinere Stücke. Irgendwann ist nicht mehr ganz klar, wie die Stück einst zusammengehört haben. Und manchmal vermischen sich auch Teile von verschiedenen Blättern und somit vermischen sich auch die Erinnerungen.
Die Erkenntnis, dass meine Erinnerung wie eine Schatztruhe voller Blätter ist, deren Formen und Farben sich verändern und schliesslich zerfallen, hat mir vor Augen geführt, dass ich ganz grosszügig loslassen darf. Mich an keine Erinnerungen klammern muss. Und trotzdem meine Schatzkiste haben kann. Im Bewusstsein, dass sich darin Geschichten befinden, die vielleicht genauso waren, vielleicht aber auch nicht. Ganz egal, ob sich etwas so zugetragen hat oder nicht: Hauptsache ich habe eine Erinnerung daran. Und wenn ich das nächste Mal mit meiner Freundin nicht einig bin, wie das auf der Reise nach Rom im Frühling 2003 nun wirklich war, freue ich mich einfach darüber, dass wir ZWEI spannende und schöne Geschichten darüber zu erzählen haben.
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